Mittwoch, 13. März 2013

Leseprobe für den 4 Band

Leseprobe zu Band 4: Die Wilden Küken - Es spukt!

„Was ist das denn?“ Enya hob ein abgebrochenes Stück Marmor aus der randvollen Truhe. Stirnrunzelnd legte sie es auf den Tisch.
Lilli öffnete die Werkzeugkiste. Aber auch darin war kein Platz für das Hexenbrett. Lilli stutzte. „Das ist doch keins von unseren Seilen.“ Sie hielt einen Strick hoch, der zu einer Galgenschlinge verknotet war. Gleichzeitig fiel ihr Blick auf das Bullauge. Strahlenförmig angeordnet, steckten Federn in dem runden Holzrahmen und auf dem winzigen Fensterbrett darunter lag ein seltsames Knäuel.
Bob zog einige der Federn aus den Ritzen. „Das sind keine Hühnerfedern!“
Enya untersuchte das Knäuel. „Das ist ein Gewölle. Das haben wir doch in Bio gelernt. Die unverdaulichen Nahrungsreste, die Raubvögel auswürgen.“ Sie hielt den Ballen näher ans Bullauge und jetzt konnten alle die Reste von Federn, Fell und winzigen Knochen erkennen.
„Igitt.“ Very schüttelte sich angeekelt.
„Da stimmt doch was nicht.“ Bob kratzte sich am Hinterkopf. „Hier kommt doch kein Raubvogel rein!“
„Das geht nicht mit rechten Dingen zu“, flüsterte Enya und legte das Gewölle auf das Marmorstück.
Immer panischer werdend, durchsuchten sie das ganze Unterdeck und schließlich lagen ein Gewölle, ein mottenzerfressener Sack, ein Galgenstrick, ein verbogener Löffel, eine verrostete Petroleumlampe und sieben Federn vor ihnen auf dem Tisch.
Enya sagte, was alle dachten: „Das stammt alles aus der alten Mühle.“
„Aber, das kann nicht sein!“ Verwirrt versuchte Lilli, ihre Gedanken zu ordnen, und packte die Fundstücke hastig in den zerschlissenen Sack. „Los, kommt mit.“


An der Kapelle angekommen, warfen die Wilden Küken ihre Räder ins Gras, Lilli zerrte den Sack aus ihrem Gepäckkorb und rannte damit zur Mühle. Sie drückte die eiserne Klinke, scharrend fuhr die alte Tür über die Dielen. „Ist da wer?“Aneinandergedrängt standen die Freundinnen neben Lilli in dem kühlen Gemäuer und lauschten. Leise erklommen sie Stufe für Stufe, stiegen vorsichtig über die morsche Stelle und betraten den Dachboden. Eine Eule hockte im Gebälk und drehte langsam den Kopf. Riesige gelb umrandete Pupillen starrten Lilli an. Der große Vogel stieß ein heiseres Krächzen aus und flatterte durch das kaputte Giebelfenster.Eine Feder schwebte schaukelnd zu Boden. Die Luft hier oben war stickig und heiß. Und obwohl sie vom Laufen erhitzt war, fror Lilli. Mit klammen Fingern zog sie die sieben Federn aus dem zerschlissenen Sack und verglich sie mit der Eulenfeder. „Hier ist auch noch so ein Gewölle“, sagte Enya. Lilli legte das Gewölle und die Federn aus dem Sack auf den Boden. Unten im Hauptraum der Mühle fanden sie auf dem Fensterbrett eine kreisrunde Stelle im Staub, auf die genau die Petroleumlampe passte. Sie warfen die Galgenschlinge auf einen Haufen mit alten Stricken und den Löffel zu dem restlichen Sperrmüll. Der Sack landete bei anderen zerschlissenen Säcken. Jetzt hielt Lilli nur noch das Marmorstück in Händen. Sie ging nach nebenan und legte es wie ein fehlendes Puzzleteil auf den Waschtisch. Alles war wieder dort, wo es hingehörte. Jedes unheimliche Ding an seinem Platz.


Mit jedem Schritt, den sie sich von der Mühle entfernten, wurde ihnen leichter ums Herz. Lilli versuchte, das nagende Rätsel einfach zu vergessen – wie einen sinnlosen Traum. Aber als sie ihren Freundinnen das Gemälde in der Kapelle zeigte, überlief sie erneut ein kalter Schauer.
Bob trat einen Schritt näher. „Komisch. Irgendwie erinnert mich das an das Bild aus dem Schlangenbach.“
„Vielleicht hat dieser Moosbacher ja beide Bilder gemalt“, mutmaßte Enya.
„Das denke ich auch!“ Lilli überlegte. „Der Küster hat gesagt, das Bild hier in der Kapelle ist mehr als hundert Jahre alt.“ Sie strich sich nachdenklich übers Kinn. „Und auf dem Waldfriedhof gibt es jede Menge Grabsteine aus dieser Zeit.“
„Was haben denn die Bilder jetzt mit dem Friedhof zu tun?“ Bob verdrehte genervt die Augen.
„Gut möglich, dass der Bilder malende Müller dort begraben liegt“, sagte Lilli leise.
„Was er wohl für ein Mensch war, dieser R. Moosbacher?“ Enya berührte mit der Fingerspitze die Signatur auf dem Gemälde. „Auf seinem Grabstein steht sicher sein voller Name.“
Very nickte. „Vielleicht sollten wir sein Grab suchen und …“ Sie senkte die Stimme. „… seinen Geist beschwören!“
Bob stieß die Kapellentür auf. „Ich hab die Schnauze voll von euren Spukgeschichten!“
Lilli packte Bob an den Schultern. „Du denkst doch nicht, dass wir den ganzen Krempel auf die Mystery gebracht haben?“
Bobs Kugelaugen funkelten Lilli an. „Wer denn sonst?“
Während Very und Enya schon hinter Bob herliefen, warf Lilli noch einen Blick zurück Richtung Friedhof. Zwischen den Büschen und Bäumen war der überwucherte gusseiserne Zaun nur zu erahnen.
Anders als auf dem Hinweg nahmen sie nicht die Straße, sondern schoben die Fahrräder über die Hahnenfußwiese. Lilli, Very und Enya versuchten aufs Neue, Bob davon zu überzeugen, dass keine von ihnen die Sachen auf der Mystery versteckt hatte.
„Vielleicht war es der Alte?“, überlegte Lilli laut. „Er will, dass wir uns von der Mühle fernhalten. Also jagt er uns einen gehörigen Schrecken ein, damit wir uns dran halten.“
Bob riss im Vorbeigehen ein paar Löwenzahnblätter ab. „Der weiß doch nichts von der Mystery.“
„Wieso nicht?“, fragte Very. „Alle Bauern hier in der Gegend kennen das Schiff.“
„Und wie sollte er das Zahlenschloss aufkriegen?“ Enya stellte sich mit einem Bein aufs Pedal und rollte ein Stück.
„Und aus dem gleichen Grund kommen auch die Grottenolme nicht infrage.“ Lilli blieb neben der Silberpappel stehen.
„Außerdem wissen die nix von der Mühle!“, sagte Bob.
Lilli kletterte in die Pappel und spähte Richtung Keltenwald. „Sie arbeiten schon wieder an ihrem Hochsitz!“ Oben am Waldrand waren drei winzige Gestalten zu erkennen. Lilli bereute es, ihren Operngucker an Bord der Mystery gelassen zu haben.
Kaum hatten sie die Hügelkuppe erreicht, da ertönte aus dem Keltenwald auch schon Mitchs Stimme. „Keinen Schritt weiter!“ Mit seiner neuen Wasserpistole im Anschlag stellte er sich den Mädchen in den Weg. Neben ihm kam Little aus dem Gebüsch. Ole hockte oben im Hochsitz und grinste frech. „Hi, Oberküken!“
Lilli ließ ihr Rad ins Gras fallen und strich sich die Locken aus der Stirn. Oles Augen schimmerten so dunkelblau über ihr, dass Lilli am liebsten gar nicht aufgehört hätte, ihn anzusehen.
Little beschrieb mit ausgestrecktem Arm einen Bogen. „Die Weiherwiese gehört euch, aber das hier ist unser Territorium.“
„Genau!“ Mitch warf sich die Wasserpistole über die Schulter und blickte zu Ole. „Gunnery Seargent Mitch erbittet Feuerbefehl für Bazooka!“
„Wir sind hier nicht in einem deiner beknackten Computerspiele!“ Very zeigte auf Mitchs Fuß. „Außerdem ist dein Schnürsenkel offen.“
Während Mitch sich nach seinem Schuh bückte, riss Very ihm mit einer blitzschnellen Bewegung die Wasserpistole aus der Hand. „Reingefallen.“
Mitch glotzte auf seine Sandalen, die überhaupt keine Schnürsenkel hatten. „Mist!“
„Und jetzt: Flossen hoch!“, rief Very und fügte mit verächtlichem Lächeln hinzu: „Gunnery Seargent Mitch!“
Behände kletterte Ole die Leiter herunter und stellte sich neben Lilli. „Ihr habt uns mit der Liane reingelegt, wir euch mit dem Zehenkäse, also sind wir quitt!“
Lilli umklammerte mit einer Hand den Leiterholm. „Toller Hochsitz, übrigens!“ Eben wollte sie ihren Fuß auf die unterste Sprosse setzen, da schob Ole sich zwischen sie und die Leiter.
„Wie wär’s mit einer kleinen Beatmung!“ Ole grinste frech.
Und Mitch johlte: „Küssen, küssen!“
Lillis Wangen glühten vor Wut und Scham. Zugleich hörte sie hinter sich Very irgendetwas von Kontaktstufen faseln, Mitch grölte erneut sein „Küssen, küssen!“, und Ole lehnte so unverschämt lässig an der Leiter … Lilli musste etwas tun. Ihn küssen oder … Oder ihn an den Schultern packen, ihr Bein vorstrecken und ihn zu Fall bringen.
Ole, der mit so einem Judogriff nicht gerechnet hatte, knickte sofort ein und rollte ins Gras. Triumphierend wollte Lilli schon die Leiter hoch, fühlte sich aber am Knöchel gepackt, torkelte und fiel rücklings ins Gras.
„Zweikampf der Giganten!“, schrie Mitch.
Lilli schnellte hoch, wich Oles Griff aus, schlang ihren Arm um seinen Hals und nahm ihn in den Schwitzkasten. Mit ganzer Kraft rang sie ihn nieder, aber Ole wuchtete sie zur Seite und presste sein Knie auf ihren Ellbogen. Lilli bäumte sich auf, konnte sich aber nicht befreien. Wie von weit her drang ein Motorengeräusch an ihr Ohr und das Rufen der Küken.
Ole ließ Lilli los. Über die Hügelkuppe näherte sich ein großer Traktor. In der Fahrerkabine erkannte Lilli Herrn Hallhuber, der im Auftrag von Verys Opa zweimal im Jahr die Weiherwiese mähte.
Eilig räumten Very, Bob und Enya die Fahrräder aus dem Weg. Very winkte grüßend zu Herrn Hallhuber, der mit einem Hupen zurückgrüßte. Lilli drehte sich um und blickte in Oles Gesicht. „Unentschieden?“, fragte sie.
„Unentschieden!“, bestätigte Ole. Er zupfte einen Grashalm aus Lillis Haaren und rannte hinter Mitch und seinem Bruder her in den Keltenwald.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen