Leseprobe Band 2: Die Wilden Küken - Eisalarm
Die Eishalle war erfüllt von Musik, Stimmengewirr
und Gelächter. Am Rand der Eisfläche war mit einer rotweißen
Flatterleine ein kleines Gebiet für eine Gruppe Kindergartenkinder
abgesperrt, die kreischend und johlend hin und her rutschten oder auf
dem Bauch übers Eis robbten. Lilli kam es vor wie eine verkehrte Welt,
draußen regnete es, aber hier drin war der herrlichste Winter. Auch wenn
sie noch nie Schlittschuh gelaufen war, angesichts des bunten Treibens
auf dem Eis klopfte ihr Herz jetzt voller Vorfreude.
»Komm, da hinten ist Gelatino.« Von der Treppe zwischen den Tribünen aus winkte Bob ihm zu. Lillis Augen suchten die Eisfläche nach bekannten Gesichtern ab, da raste auch schon Mitch in ihr Blickfeld. Mit hochrotem Gesicht jagte er dem Puck nach, den er mit seinem Eishockeyschläger vor sich hertrieb. Lilli musste unwillkürlich lächeln, als sie Little entdeckte, der vorsichtig einen Stuhl vor sich her schob. An dessen Lehne geklammert, machte er so vorsichtige Schritte, als befände er sich auf dünnstem Eis und würde jede Sekunde damit rechnen, einzubrechen. Lilli legte die Hände wie einen Trichter an den Mund. »Wo ist denn Ole?«
Little blickte nicht mal auf. Lilli war sich nicht sicher, ob sie den allgemeinen Lärm übertönt hatte. Mitch jedoch drehte sich um, aber anstatt zu antworten, richtete er den Eishockeyschläger wie ein Gewehr auf Lilli und ballerte drauflos, als wäre er einer der Helden aus seinen Actionfilmen. Genau wie Lilli, Bob und Very waren auch Mitch, Little und Ole eine Bande: die Grottenolme. Die Jungs hatten ihnen schon so manchen Streich gespielt, aber die Wilden Küken waren den Olmen nichts schuldig geblieben. Derzeit herrschte allerdings Waffenstillstand zwischen den Banden. Very streckte Mitch, der ihr durch die gläserne Sicherheitswand vor den Tribünen hindurch Grimassen schnitt, kurz ihre spitze Zunge raus und zog Lilli am Ärmel weiter Richtung Schlittschuhverleih. Gelatino half gerade einer Eisläuferin aus den Schlittschuhen.
»Omeiomei, de san ja eiskoid!« Gelatino begann, der jungen Frau die Füße zu massieren. Gelatino hieß eigentlich Georg Hadersdorfer, hatte seit Kurzem den Führerschein und kam nicht etwa aus Italien, sondern aus Bayern, genauer gesagt aus Rosenheim. Im Sommer jobbte er als Eisverkäufer in der Eisdiele von Bobs Mutter. Im Winter half er ab und zu im Schlittschuhverleih der Eisbahn aus. Bob durchstöberte die Regale nach passenden Schlittschuhen für sich und Lilli.
»Wir können die doch gratis leihen?«, sagte sie in Gelatinos Richtung und drückte Lilli ein Paar Schlittschuhe in die Hand. Aber Gelatino ließ nicht mit sich handeln und verlangte den vollen Preis. Weil Lillis Geld schon für den Eintritt draufgegangen war, legte Very ihr den Betrag aus. Very bekam pro Woche so viel Taschengeld wie Lilli und Bob zusammen im Monat. Very legte das Geld neben ihn auf die Sitzbank, aber Gelatino hatte nur Augen für die Eisläuferin. Da tauchte hinter ihm Giulia, Bobs ältere Schwester, auf und zwinkerte den Wilden Küken erst verschwörerisch zu, dann räusperte sie sich.
»He, Gelatino, wird deine Freundin da nicht eifersüchtig?« Gelatino hatte überhaupt keine Freundin. Das wussten er und Giulia und die Wilden Küken, aber nicht die Eisläuferin. Leicht pikiert zog sie ihren Fuß aus seinen Händen und machte sich aus dem Staub. Giulia lachte frech und lief zu ihrem Freund Justin, der schon ungeduldig auf sie wartete. Missmutig schaute Gelatino zu, wie Giulia Justin zur Begrüßung einen langen Kuss gab. Bob schob Lilli vor sich her Richtung Eisbahn. »Meine Schwester will zu Justin ziehen, und wenn das klappt, dann krieg ich Giulias Zimmer!«
Lilli und Very waren beide Einzelkinder. Für sie war ein eigenes Zimmer eine Selbstverständlichkeit. Aber Bob schlief noch immer zusammen mit ihrem kleinen Bruder in einem Etagenbett.
Wie versprochen, hakten sich die Freundinnen bei Lilli links und rechts unter, sobald sie auf dem Eis waren. Die drei Wilden Küken summten die Musik aus den Lautsprechern mit und setzten, dem Rhythmus folgend, im Gleichschritt Fuß vor Fuß. Immer schneller glitten sie übers Eis und immer sicherer fühlte sich Lilli. Mitch kreiste um sie herum und versuchte immer wieder, seinen Puck gegen die Kufen der Wilden Küken zu schießen.
»Lass das, du Knallkopf«, rief Very. »Bis zum ersten Schnee herrscht doch Waffenstillstand.« Aber schon wieder musste Very dem Puck ausweichen. »Na, warte.« Sie ließ Lilli los und nahm wutschnaubend Mitchs Verfolgung auf. Ein paar wacklige Schritte fuhr Lilli, auf Bob gestützt, weiter, bis Bob sie einfach auf Littles Stuhl absetzte und ebenfalls hinter Mitch herjagte. Little hüstelte und stellte in sachlichem Ton fest: »Du bist zwar etwas schwer, aber ich schiebe dich trotzdem.« »Das ist aber lieb von dir«, sagte Lilli mit leisem Spott. Little schob immer langsamer und ächzte.
»Die Schwerkraft setzt sich aus der Erdanziehung abzüglich der durch die Erdrotation bewirkten Zentrifugalkraft zusammen.« Little war Oles Zwillingsbruder. Sein richtiger Name war eigentlich Linus, aber alle nannten ihn nur Little, manche auch Professor Little. Die Brüder waren keine eineiigen Zwillinge, und weil sie sich ziemlich unterschiedlich kleideten und Ole viel längere Haare hatte, konnte man die beiden gut auseinanderhalten. Lilli legte den Kopf zurück und blickte in Littles Augen. Sie waren genauso tiefblau wie die von Ole. »Wo ist denn dein Bruder?« »Die vom Eishockeyklub haben noch eine Besprechung.« Lilli zog die Füße hoch. Haarscharf sauste erst Very mit vollem Karacho vorbei und gleich hinter ihr Mitch. »Gib her, Very, oder ich …« Mitch keuchte. Er war ziemlich aus der Puste. Very hatte sich seinen Eishockeyschläger geschnappt, fuhr jetzt elegant rückwärts und wedelte dabei mit dem Schläger vor Mitchs Nase herum, als würde sie einen Hund mit einem Knochen locken. »Fass, Hundi, fass!« Hinter den beiden her lief Bob mit dem Puck in der Hand. Je erschöpfter und plumper sich Mitch auf dem Eis bewegte, desto graziöser schwebte Very. Genau in dem Augenblick, in dem Mitch die Hand nach seinem Schläger ausstreckte, drehte Very eine Pirouette und Mitch griff ins Leere. Er verlor das Gleichgewicht, drehte die Arme wie Windmühlenflügel und landete auf seinem Hinterteil. »Die Gravitation bewirkt beispielsweise, dass Gegenstände zu Boden fallen«, beendete Little gerade seinen Vortrag über die Schwerkraft. »In diesem Fall wohl eher Olme.« Lilli versuchte gar nicht erst, ihr schadenfrohes Lachen zu unterdrücken. Little schob den Stuhl mit der lachenden Lilli darauf noch einen Meter weiter und hielt direkt vor dem sich aufrappelnden Mitch. Gleichzeitig bremsten auch Very und Bob mit knirschenden Kufen.
Mitch warf sich heldenhaft in die Brust. »Toller Stunt, was?« »Das muss genäht werden«, sagte Little in sachlichem Tonfall. Mitch tastete erschrocken seine Stirn ab und murmelte ängstlich: »Was muss genäht werden?« »Deine klaffende Wunde …« Bob biss sich auf die Lippen und drehte Mitch herum. Und da sah es auch Lilli. Zwischen den Gesäßtaschen seiner Jeans klaffte ein kaum zu übersehender Riss. Mitch fasste sich ans Hinterteil und lief noch röter an, als er schon war. Fast tat er Lilli jetzt leid. Trotzdem konnte sie nicht aufhören zu lachen. Und Bob erst recht nicht. »Hübsche Boxershorts«, sagte Very und hielt Mitch ihre ärmellose Daunenweste hin. Sie war einen Kopf größer als er, und die Weste war lang genug, um Mitch aus der Patsche zu helfen. Erleichtert, von sich ablenken zu können, deutete Mitch auf den Verkäufer, der eben seinen Wagen auf die Eisbahn schob. »Wer will einen Donut?«
»Wir!« Very und Bob folgten Mitch. Little fuhr ihnen auf unsicheren Beinen hinterher. Nur Lilli blieb auf dem Stuhl zurück. Sie hatte keinen Hunger, und jetzt, wo keiner mehr auf sie achtete, probierte sie das mit dem Stuhl aus. Sie stellte sich wie Little hinter die Lehne und setzte sich in Bewegung. Der Stuhl gab ihr Halt und Sicherheit und tatsächlich bekam sie allmählich ein Gefühl fürs Eislaufen...
»Komm, da hinten ist Gelatino.« Von der Treppe zwischen den Tribünen aus winkte Bob ihm zu. Lillis Augen suchten die Eisfläche nach bekannten Gesichtern ab, da raste auch schon Mitch in ihr Blickfeld. Mit hochrotem Gesicht jagte er dem Puck nach, den er mit seinem Eishockeyschläger vor sich hertrieb. Lilli musste unwillkürlich lächeln, als sie Little entdeckte, der vorsichtig einen Stuhl vor sich her schob. An dessen Lehne geklammert, machte er so vorsichtige Schritte, als befände er sich auf dünnstem Eis und würde jede Sekunde damit rechnen, einzubrechen. Lilli legte die Hände wie einen Trichter an den Mund. »Wo ist denn Ole?«
Little blickte nicht mal auf. Lilli war sich nicht sicher, ob sie den allgemeinen Lärm übertönt hatte. Mitch jedoch drehte sich um, aber anstatt zu antworten, richtete er den Eishockeyschläger wie ein Gewehr auf Lilli und ballerte drauflos, als wäre er einer der Helden aus seinen Actionfilmen. Genau wie Lilli, Bob und Very waren auch Mitch, Little und Ole eine Bande: die Grottenolme. Die Jungs hatten ihnen schon so manchen Streich gespielt, aber die Wilden Küken waren den Olmen nichts schuldig geblieben. Derzeit herrschte allerdings Waffenstillstand zwischen den Banden. Very streckte Mitch, der ihr durch die gläserne Sicherheitswand vor den Tribünen hindurch Grimassen schnitt, kurz ihre spitze Zunge raus und zog Lilli am Ärmel weiter Richtung Schlittschuhverleih. Gelatino half gerade einer Eisläuferin aus den Schlittschuhen.
»Omeiomei, de san ja eiskoid!« Gelatino begann, der jungen Frau die Füße zu massieren. Gelatino hieß eigentlich Georg Hadersdorfer, hatte seit Kurzem den Führerschein und kam nicht etwa aus Italien, sondern aus Bayern, genauer gesagt aus Rosenheim. Im Sommer jobbte er als Eisverkäufer in der Eisdiele von Bobs Mutter. Im Winter half er ab und zu im Schlittschuhverleih der Eisbahn aus. Bob durchstöberte die Regale nach passenden Schlittschuhen für sich und Lilli.
»Wir können die doch gratis leihen?«, sagte sie in Gelatinos Richtung und drückte Lilli ein Paar Schlittschuhe in die Hand. Aber Gelatino ließ nicht mit sich handeln und verlangte den vollen Preis. Weil Lillis Geld schon für den Eintritt draufgegangen war, legte Very ihr den Betrag aus. Very bekam pro Woche so viel Taschengeld wie Lilli und Bob zusammen im Monat. Very legte das Geld neben ihn auf die Sitzbank, aber Gelatino hatte nur Augen für die Eisläuferin. Da tauchte hinter ihm Giulia, Bobs ältere Schwester, auf und zwinkerte den Wilden Küken erst verschwörerisch zu, dann räusperte sie sich.
»He, Gelatino, wird deine Freundin da nicht eifersüchtig?« Gelatino hatte überhaupt keine Freundin. Das wussten er und Giulia und die Wilden Küken, aber nicht die Eisläuferin. Leicht pikiert zog sie ihren Fuß aus seinen Händen und machte sich aus dem Staub. Giulia lachte frech und lief zu ihrem Freund Justin, der schon ungeduldig auf sie wartete. Missmutig schaute Gelatino zu, wie Giulia Justin zur Begrüßung einen langen Kuss gab. Bob schob Lilli vor sich her Richtung Eisbahn. »Meine Schwester will zu Justin ziehen, und wenn das klappt, dann krieg ich Giulias Zimmer!«
Lilli und Very waren beide Einzelkinder. Für sie war ein eigenes Zimmer eine Selbstverständlichkeit. Aber Bob schlief noch immer zusammen mit ihrem kleinen Bruder in einem Etagenbett.
Wie versprochen, hakten sich die Freundinnen bei Lilli links und rechts unter, sobald sie auf dem Eis waren. Die drei Wilden Küken summten die Musik aus den Lautsprechern mit und setzten, dem Rhythmus folgend, im Gleichschritt Fuß vor Fuß. Immer schneller glitten sie übers Eis und immer sicherer fühlte sich Lilli. Mitch kreiste um sie herum und versuchte immer wieder, seinen Puck gegen die Kufen der Wilden Küken zu schießen.
»Lass das, du Knallkopf«, rief Very. »Bis zum ersten Schnee herrscht doch Waffenstillstand.« Aber schon wieder musste Very dem Puck ausweichen. »Na, warte.« Sie ließ Lilli los und nahm wutschnaubend Mitchs Verfolgung auf. Ein paar wacklige Schritte fuhr Lilli, auf Bob gestützt, weiter, bis Bob sie einfach auf Littles Stuhl absetzte und ebenfalls hinter Mitch herjagte. Little hüstelte und stellte in sachlichem Ton fest: »Du bist zwar etwas schwer, aber ich schiebe dich trotzdem.« »Das ist aber lieb von dir«, sagte Lilli mit leisem Spott. Little schob immer langsamer und ächzte.
»Die Schwerkraft setzt sich aus der Erdanziehung abzüglich der durch die Erdrotation bewirkten Zentrifugalkraft zusammen.« Little war Oles Zwillingsbruder. Sein richtiger Name war eigentlich Linus, aber alle nannten ihn nur Little, manche auch Professor Little. Die Brüder waren keine eineiigen Zwillinge, und weil sie sich ziemlich unterschiedlich kleideten und Ole viel längere Haare hatte, konnte man die beiden gut auseinanderhalten. Lilli legte den Kopf zurück und blickte in Littles Augen. Sie waren genauso tiefblau wie die von Ole. »Wo ist denn dein Bruder?« »Die vom Eishockeyklub haben noch eine Besprechung.« Lilli zog die Füße hoch. Haarscharf sauste erst Very mit vollem Karacho vorbei und gleich hinter ihr Mitch. »Gib her, Very, oder ich …« Mitch keuchte. Er war ziemlich aus der Puste. Very hatte sich seinen Eishockeyschläger geschnappt, fuhr jetzt elegant rückwärts und wedelte dabei mit dem Schläger vor Mitchs Nase herum, als würde sie einen Hund mit einem Knochen locken. »Fass, Hundi, fass!« Hinter den beiden her lief Bob mit dem Puck in der Hand. Je erschöpfter und plumper sich Mitch auf dem Eis bewegte, desto graziöser schwebte Very. Genau in dem Augenblick, in dem Mitch die Hand nach seinem Schläger ausstreckte, drehte Very eine Pirouette und Mitch griff ins Leere. Er verlor das Gleichgewicht, drehte die Arme wie Windmühlenflügel und landete auf seinem Hinterteil. »Die Gravitation bewirkt beispielsweise, dass Gegenstände zu Boden fallen«, beendete Little gerade seinen Vortrag über die Schwerkraft. »In diesem Fall wohl eher Olme.« Lilli versuchte gar nicht erst, ihr schadenfrohes Lachen zu unterdrücken. Little schob den Stuhl mit der lachenden Lilli darauf noch einen Meter weiter und hielt direkt vor dem sich aufrappelnden Mitch. Gleichzeitig bremsten auch Very und Bob mit knirschenden Kufen.

Mitch warf sich heldenhaft in die Brust. »Toller Stunt, was?« »Das muss genäht werden«, sagte Little in sachlichem Tonfall. Mitch tastete erschrocken seine Stirn ab und murmelte ängstlich: »Was muss genäht werden?« »Deine klaffende Wunde …« Bob biss sich auf die Lippen und drehte Mitch herum. Und da sah es auch Lilli. Zwischen den Gesäßtaschen seiner Jeans klaffte ein kaum zu übersehender Riss. Mitch fasste sich ans Hinterteil und lief noch röter an, als er schon war. Fast tat er Lilli jetzt leid. Trotzdem konnte sie nicht aufhören zu lachen. Und Bob erst recht nicht. »Hübsche Boxershorts«, sagte Very und hielt Mitch ihre ärmellose Daunenweste hin. Sie war einen Kopf größer als er, und die Weste war lang genug, um Mitch aus der Patsche zu helfen. Erleichtert, von sich ablenken zu können, deutete Mitch auf den Verkäufer, der eben seinen Wagen auf die Eisbahn schob. »Wer will einen Donut?«
»Wir!« Very und Bob folgten Mitch. Little fuhr ihnen auf unsicheren Beinen hinterher. Nur Lilli blieb auf dem Stuhl zurück. Sie hatte keinen Hunger, und jetzt, wo keiner mehr auf sie achtete, probierte sie das mit dem Stuhl aus. Sie stellte sich wie Little hinter die Lehne und setzte sich in Bewegung. Der Stuhl gab ihr Halt und Sicherheit und tatsächlich bekam sie allmählich ein Gefühl fürs Eislaufen...
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